Ramona Fetting kümmert sich in der Seehundstation Norddeich um kleine Seehunde

Zum Heulen niedlich

Machen Sie einfach ein Foto, sagt Ramona Fetting am Telefon, und das bitte schicken – sie kümmere sich dann sofort. „Und bitte gehen Sie nicht näher an das Tier heran. Halten Sie weiterhin Abstand, das ist ganz wichtig.“ Fetting legt ihr Smartphone auf den Tisch. Eine Spaziergängerin habe einen Seehund am Strand entdeckt, erklärt die Tierpflegerin in der Seehundstation in Norddeich, und glaube jetzt, das Tier sei krank. Das passiere immer wieder. „Dann muss man den Leuten erklären, dass sie am Strand gewissermaßen im Wohn- und Schlafzimmer der Tiere unterwegs seien. Und dass sich die Tiere auch mal ausruhen müssen.“

Die liegen dann da und chillen?

Ja, genau. Meistens haben sie den Bauch mit Fisch voll. Das ist bei Seehunden nicht anders als bei Menschen – wir sind nach einem guten Essen ja auch eher träge und gehen aufs Sofa.

Wo wir auch unsere Ruhe haben wollen …

Und genauso ist das bei Seehunden. Urlaubern fällt es manchmal schwer, das zu verstehen. Die sehen einen Seehund, der sich nicht rührt, und wollen gleich helfen. Dann gehen die auch schon mal ganz nah ran an das Tier. Der Seehund ist dadurch total gestresst, weiß aber instinktiv, dass er sich ausruhen muss, weil er Kraft für den nächsten Beutezug sammeln muss. Nur deswegen bleibt er liegen. Wenn die Tiere in einer solchen Situation ins Wasser fliehen, sind sie nicht ausgeruht. Dann fangen sie möglicherweise weniger Fisch und sind beim nächsten Landgang müder als sonst. Und wenn dann wieder ein Mensch kommt, schaukelt sich das schnell hoch. Generell muss ich aber sagen: Die allermeisten Besucher machen das sehr gut. Die sind einfach nur besorgt.

Wie viel Abstand sollte man denn halten?

Am besten 300 Meter. Das ist natürlich nicht immer möglich. Manchmal sieht man den Seehund ja auch erst im letzten Augenblick, weil er in einer Mulde liegt.

Welche Tiere kommen denn in die Station hier in Norddeich?

Wenn wir uns anhand der Fotos oder Videos nicht sicher sind, alarmieren wir einen unserer ehrenamtlichen Mitarbeiter. Er oder sie fährt dann raus und schaut sich das Tier an. Wenn es tatsächlich Hilfe braucht, kommt es zu uns. Mit dem Auto, mit der Fähre oder auch mal mit dem Flugzeug. Wir sind ja hier für ganz Niedersachsen zuständig, für die komplette Nordseeküste und auch für die Inseln. Im Jahr betreuen wir so um die 350 Tiere, davon sind so um die 200 kleine Heuler. Das sind verlassene junge Seehunde. Die haben wir vor allem im Sommer hier. Dann geht es hier rund – die haben nämlich alle gleichzeitig Hunger.

Was bekommen die denn zu fressen?

Zuerst einen Muttermilchersatz, eine Lachs-Emulsion, damit werden die Kleinen ganz schnell ganz satt. Anschließend schlafen die dann für ein paar Stunden, und dann haben sie auch schon wieder Hunger. Wir Pfleger haben hier lange Tage.

Und wann kommen die kleinen Heuler zurück in die Nordsee?

Wenn Sie keine kleinen Heuler mehr sind, sondern 25 Kilo wiegen. Im Durchschnitt ist ein Jungtier 63 Tage bei uns in der Station. Entscheidend ist, wie schnell ein junger Seehund anfängt, von sich aus Fisch zu fressen. Deswegen stellen wir nach acht Tagen Muttermilchersatz auch langsam auf Hering um. Bei den ersten Exemplaren machen die Kleinen erst einmal ganz große Augen, nach dem Motto: Was ist denn das bitteschön? Wir werfen dann immer ein paar Fische ins Wasser. Irgendwann fangen sie an, an denen zu knabbern.

Das Smartphone vibriert, das Foto ist da. Ramona Fetting genügt ein kurzer Blick, um zu erkennen: Das Tier ist gesund. „Sieht sogar sehr gut aus“, sagt sie, schreibt der Spaziergängerin ein paar beruhigende Zeilen, bedankt sich für deren Einsatz und wünscht weiterhin einen schönen Urlaub.

Wieso gibt es eigentlich so viele Heuler? Sind deren Mütter alle tot?

Nein. Meistens liegt es am Menschen, dass Mütter und Jungtiere getrennt werden. Seehunde säugen ihren Nachwuchs ja am Strand, und während der Ebbe gibt es dafür immer nur ein kurzes Zeitfenster. Die Seehundmütter legen sich dann auf die Seite, das Kleine kann andocken und trinken. Leider laufen bei Ebbe aber oft auch Menschen auf den Sandbänken herum. Oder Boote kommen zu nah heran. Die Seehundmutter dreht sich dann instinktiv in Habachtstellung auf den Bauch, und das Jungtier kann nicht mehr trinken.

Und dann flieht die Mutter irgendwann ins Meer, und das Kleine robbt hinterher.

Genau. Mit zu wenig Nahrung im Bauch. Jede einzelne Säugephase ist aber total wichtig. Wenn Mutter und Junges mehrmals gestört werden, hat der kleine Seehund schnell nicht mehr die Kraft, in Wind und Wellen mitzukommen. Dann verlieren die beiden sich, und aus dem kleinen Seehund wird ein kleiner Heuler, der Hilfe braucht.

Und der ohne die Seehundstation nicht überleben würde.

Würde er tatsächlich nicht. Im Grunde versuchen wir hier, das wieder gerade zu biegen, was andere draußen in der Natur kaputt gemacht haben.

Norddeich Seehundstation